Textatelier
BLOG vom: 10.12.2007

Luzerner Kleinstadt Willisau: Eher ein Rechteck als ein Ringli

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Bei unserem Besuch des Weihnachtsmarkts 2007 in Willisau im Luzerner Hinterland, das gleichzeitig das Napf-Vorland ist, wurde mir klar, dass regional geprägte Produkte wahrscheinlich wieder jene Bedeutung erhalten, die sie vor Jahrhunderten hatten. War an jenem 08.12.2007 schon am Nachmittag ein grosser Publikumsandrang festzustellen gewesen, strömten beim Einnachten, als die Festbeleuchtung an den Hausfassaden sowie an den Brunnensäulen zu strahlen begann und wir die Heimfahrt antraten, lange Fussgänger- und Autokolonnen dem Städtchen zu, um den so genannten Christkindli-Märt zu besuchen.
 
Märkte im Zeitenwandel
In der Buchhandlung Imhof in CH-6130 Willisau hatte ich das Buch „Willisau“ von Alois Häfliger und Josef Bucher (Verlag Willisauer Bote, 1999) gekauft. Darin findet sich ein Kapitel „Markt und Kilbi einst und heute“. Ihm habe ich entnommen, dass Willisau (heute ein Fusionsprodukt aus Willisau-Stadt und der flächenmässig zehnmal grösseren Gemeinde Willisau-Land vom 01.01.2006 in der Talverzweigung der Enzi- und Buchwigger) bereits im frühen 14. Jahrhundert von den Herren von Habsburg, die hier eines ihrer Macht- und Statussymbole gebaut hatten, das Recht auf Jahr- und Wochenmärkte hatte. Willisau wurde fortan zu einem bedeutenden Marktort. Die Kleinstadt war der Mittelpunkt der Grafschaft „Willineshowo“. 1406 wurde sie an die Stadt Luzern verkauft. Die Markttradition hat sich bis heute erhalten: Neben dem Katharinenmarkt, dem Kilbimarkt und dem Weihnachtsmarkt findet jeweils am letzten Donnerstag des Monats in der Hauptgasse der Warenmarkt statt.
 
In den Jahren 1471 und 1704 wurde das Städtchen durch Grossbrände vollständig vernichtet. Ein früherer Stadtbrand (1375) geht auf das Konto des Grafen Rudolf von Lenzburg, der auf die wahrhaft glorreiche Idee verfiel, alle Häuser anzünden zu lassen, um den einfallenden Guglern den Unterschlupf zu verwehren – ähnlich den modernen Amerikanern, die ganze Länder unter Einschluss ihrer kulturellen Werte verwüsten, um unter frei erfundenen Anschuldigungen einen Herrscher zu fangen, der nicht mehr spurte.
 
Märkte dienten der Versorgung: Als es mit Dorfläden noch nicht weit her war, erlaubten die Marktveranstaltungen den weitgehend auf Selbstversorgung ausgerichteten Bauernfamilien, Überschüsse abzusetzen, und Lebensmittel, die man nicht selber produzieren konnte, zu erwerben, ebenso Gegenstände für den Alltagsgebrauch. Besonders auch der Getreidemarkt war in Willisau bedeutend, bei dem beeidigte Kornhändler (Hodler und Müller) den Bauern die Körner abkauften und in Luzern weiter vertrieben. Das geschah oft in einer unterhaltsamen, von Musikklängen (zum Beispiel aus Drehorgeln oder Musikmaschinen aller Art) erfüllten Atmosphäre mit Auftritten von Gauklern, dem Rösslispiel usf. Es waren also rituelle Feste; und selbst moderne Warenhäuser versuchen, etwas von dieser althergebrachten Marktstimmung in ihre auf Absatzförderung getrimmten Tempel zu retten.
 
Im speziellen Falle von Willisau wurde der Stadt erst am 13. August 1642 von der Obrigkeit in Luzern erlaubt, ein Kaufhaus einzurichten. Die neuen Einkaufssitten mit den zunehmenden Dorfläden wirkten sich überall negativ auf die Märkte aus, die oft verschwanden oder zu folkloristischen Attraktionen schrumpften. Inzwischen haben die modernen gigantischen Einkaufszentren, deren Einflussbereich kaum einen Winkel des Landes verschont, die kleinen Läden erfolgreich weitgehend vertrieben. Sie sind in die automobilgemachte Gesellschaft einbezogen; wer nicht genügend mobil ist, hat das Nachsehen oder kann sich die Ware ins Haus liefern lassen. Das Angebot der Grossverteiler ist riesig, aber wegen der ausgesprochenen Standardisierung bei einem möglichst hohen Verarbeitungsgrad (lange haltbare Bequemlichkeitsprodukte, Convenience Food, nach dem Herkunftsgebiet benannt) doch unbefriedigend. Es passiert mir gelegentlich, dass ich durch solch einen Tempel wandere und nichts finde, das mich anspricht – ganz anders in einem Hüttchen eines ab Hof verkaufenden Bauern, wo mich eigentlich alles interessiert. In den Riesencentern sind die Produkte aus der Region praktisch ausgeklammert, weil sie nicht in den sturen Sortimentsmechanismus passen.
 
Zweifellos bin ich mit solchen Empfindungen nicht allein und freue mich eigentlich, dass es diesen Grossverteiler-Schematismus gibt. Denn dieser lässt eben Freiraum für individuelle Anbieter und auch für regionale Märkte der traditionellen Art. So hat zum Beispiel der ehemalige Bauernmarkt in Willisau am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem „Buuremärt Region Hinterland“ eine Neubelebung erfahren; in den Sommermonaten bieten Bauersleute aus der Willisauer Landschaft, die oft auf steilen „Eggen“ leben, jeweils am Samstagvormittag vor der imposanten, nach dem Heimatstil gestalteten Rathaus-Fassade Frischprodukte vom eigenen Hof an.
 
Solche Märkte kommen den Bedürfnissen, wie sie in meiner eigenen Familie vorherrschend sind, sehr entgegen. Auf der Suche nach bester Qualität aus naturnaher und tierfreundlicher Produktion werden wir immer wieder fündig. Im Bibersteiner Schlossladen finden wir ausgezeichnetes Gebäck, und in der ganzen Nachbarschaft gibt es ausreichend Biobauern, die unseren Frischproduktebedarf gern decken. Man kennt sich, ebenso das jahreszeitlich wechselnde Angebot – eine angenehme wechselseitige Beziehung. Bei Exkursionen bin ich immer auf zusätzliche Entdeckungen bedacht, was auch regionstypische Gaststätten einschliesst.
 
Der Willisauer Kern als Marktkulisse
Und so besuchten wir auch den Weihnachtsmarkt Willisau in der harmonischen Altstadt, die man durch eines der beiden Tore betreten kann. Der 250 m lange Stadtkern ist ein richtiges Gemälde, wobei der rechteckige Rahmen aus den spätmittelalterlichen geschlossenen Häuserzeilen eigentlich das Wesentliche ist. Es sind schlichte Bürgerhäuser mit regelmässigen Fensterreihen. Im Zentrum der Altstadt befinden sich 3 grosse, siebeneckige Brunnen, eine selten anzutreffende Form. Diese in der Vorweihnachtszeit bekränzten Brunnen, die um ungefähr 1600 entstanden sind und das Wasser von den Quellen im Schlosshügel beziehen, wurden 1951 und 1957 nach alten Massen neu geschaffen. Über der Willisauer Altstadt thront das Amts- oder Landvogteischloss, das 1690‒1695 unter der Leitung des Landvogts Junker Franz Bernhard Feer erbaut worden ist. Und einen Akzent setzt vor allem der spätromanische Kirchturm der Pfarrkirche St. Peter und Paul, dessen welsche Haube einst mit den (ochsen-)blutrot bemalten Schindeln gedeckt war; sie wurde 1996 durch Kupferschindeln ersetzt. Darunter soll sich eine Eisen-Beton-Konstruktion aus dem Jahr 1929 verbergen. Das ist übrigens die grösste Kirche der Luzerner Landschaft.
 
Gerstensuppe bis Apfelküchlein
In dieser romantischen Atmosphäre fand also der Willisauer Christkindlimarkt (von Freitag bis Sonntag) statt, der aus der Hauptgasse auch hinein in einige der Hintergassen wie die Chilegass, Schaalgass, den Schlossweg, in die Müligass und Spittelgass ausfranste. Ein Zwischenhoch hatte am Samstagnachmittag für blauen Himmel und etwas Sonne bei etwa 5 °C gesorgt.
 
Gleich nach dem Eingang durch das obere Tor, das 1471 dem Brand zum Opfer gefallen und dann wieder aufgebaut worden ist (den Brand hatte es 1704 unversehrt überstanden), blieb ich bei einer mobilen Feldküche, einer Art „Gulaschkanone“ hängen, worin die Hobbyköche des Männerkochklubs Willisau eine phänomenale, schön gebundene und schmackhafte Gerstensuppe zubereitetet hatten. Sie spendete die nötige innere Wärme. Im weiteren Verlauf der Ausstellung begegneten wir unendlich vielen Engeln in allen Versionen, Holzarbeiten, Gebäck, Würsten, Kerzen, Gewürzen und Duftstoffen. Die Fanfarengruppe der Musikgesellschaft Rohrmatt intonierte bekannte Weihnachtsmelodien.
 
Vor den schlichten Bürgerhäusern mit den regelmässigen Fensterreihen rösteten Maronibrater ihre Delikatessen, und knisternde Kessel-Holzfeuer spendeten Wärme. Und am Stand von Manuela und Adriano Maucieri-De Tommaso fanden wir ein sanft nach grünen Oliven und wilden Gräsern duftendes sizilianisches Olivenöl, das nach biologischen Normen aus den Olivensorten Moresca und Biancolilla produziert und unfiltriert abgefüllt worden ist; wir nahmen gleich einen 5-Liter-Bidon (110 CHF) mit, zusammen mit eingelegten Tomaten und Artischockenböden. Alle Teigwaren-, Gemüse und ähnlichen Gerichte pflege ich bei Tische zur Geschmackshebung grosszügig mit erlesenem Olivenöl zu begiessen.
 
Selbstverständlich statteten wir auch dem Ringlihus einen Besuch ab, worin 1850 der Aargauer Bäckermeister Heinrich Maurer zusammen mit der angeheirateten Willisauerin Anna Peyer die berühmten Willisauer Ringli zu backen begonnen hatte. Das Traditionshaus wird heute von Michael und Ursula Renggli-Kurmann offensichtlich erfolgreich geführt; jedenfalls war im Café kein Platz mehr frei (www.ringlihus.ch). Aber ein paar Ringli wollte Eva mitnehmen, auch für eine Bekannte, die nur die echten Willisauer Ringli akzeptiert. Für diesen Ansatzkanal bin ich dankbar. Denn obschon ich im Vollbesitz meiner eigenen gesunden Zähne bin und mit jeder Art von Knorpel, altbackenen Brotanschnitten und dergleichen spielend fertig werde, sind mir die Ringli mit den weissen Punkten aus dem Ursprungshaus im nicht aufgeweichten Zustand doch etwas zu hart. Doch das ist gerade ihr Qualitätsmerkmal. Man muss eben Geduld haben, bis sie im Mund unter Speichel-Einwirkung allmählich zerfallen. Die Ringli gibt es auch in Blechbüchsen, auf denen die Willisauer Altstadt abgebildet ist, oder als Ringlikranz (auf ein Band aufgezogen) zu kaufen. Aber weicher werden sie dadurch auch nicht. Das Rezept scheint dermassen geheim zu sein, dass auf der Packungsbeilage nicht einmal die Inhaltsstoffe deklariert sind.
 
Bedeutend weicher waren dann die Apfelküchlein, die in der Nähe des Untertors aus dem heissen Öl gezogen worden sind, die man mit Zimtzucker und/oder einer Vanillesauce begoss. Eva lobte nicht nur die Küchlein („wunderbar“), sondern auch mich, zumal es mir stehend gelungen war, diese tropfenden Süssigkeiten zu geniessen, ohne die Windjacke zu verschmieren. (Oft haben Frauen keinen Sinn für eine Patina, mit der schöne Erinnerungen verbunden sind.)
 
Ich wäre gern noch in einem Willisauer Restaurant wie dem von 8 Schwestern geleiteten „Mohren“ oder wie dem China-Restaurant „Chang-Cheng“ zum Abendessen eingekehrt, doch für eine zusätzliche Verpflegung bestand kein Bedarf mehr. Stattdessen besuchten wir noch die Ausstellung „Krippenfiguren führen durch den Advent“, die offenbarte, wie früher kunsthandwerklich begabte Personen mit allen möglichen Materialien wie Wachs, Papiermaché, Holz, Keramik, Metallen die frommen Stallatmosphäre wiederzugeben, ja zu Leben zu erwecken verstanden. Am Tage unseres Besuchs wurde im katholischen Luzernerland gerade das Fest Mariä (unbefleckte) Empfängnis gefeiert – aber auch eine solche kann Folgen haben.
 
Die Schokoladenseite – in Lenzburg
Auf der Hinfahrt hatten wir noch im Secondhand-„shop46“ der liebenswürdigen Maxi Ramisch an der Sägestrasse 46 in CH-5600 Lenzburg (www.ipsylon.ch) hereingeschaut, eine gepflegte grosse Verkaufshalle, wo angehende Verkäuferinnen und Verkäufer in diesen Beruf eingeführt werden. Sie können dort Eigenschaften wie Eigenverantwortung, Selbsterkenntnis, Gastfreundschaft und Kreativität zur Entfaltung bringen. In diesem Haus herrscht immer eine schöne, in jeder Beziehung aufgeräumte Stimmung, und ich habe dort schon manch ein rares Buch zu einem symbolischen Preis erstanden, so am vergangenen Samstag das Buch „Die mineralischen Rohstoffe der Schweiz“, 1997 von der Schweizerischen Geotechnischen Kommission in kleiner Auflage (4000 Exemplare) herausgegeben. Es ermöglicht mir, meine Geologiekenntnisse noch etwas auszuweiten; bei Landschaftsbeschreibungen kommt man nicht ohne solche aus, will man die höchst anspruchsvollen Blogatelier-Leser nicht verlieren.
 
Der Raum war diesmal von einem delikaten Duft nach gerösteteten Kakaobohnen durchdrungen, weil Carmen Moeri aus CH-5243 Mülligen gerade solche Bohnen geduldig durch eine Art Fleischwolf drehte und die Schokoladeherstellung demonstrierte. Man durfte die dunklen Delikatessen degustieren und Schokolade-Spezialitäten, etwa solche auch der Schoggifactory Baden (AG), kaufen. Aus Frankreich gab es die Amandes au Chaudron: jede einzelne Mandel in grossen Kesseln aus rotem Kupfer auf offenem Feuer in karamellisiertem Rohrzucker durchgeröstet und mit Bitterschokolade überzogen. Aus der deutschen Confiserie Coppeneur et Compagnon GmbH in D-53604 Bad Honnef stammen die Schokoladen mit Ingwer und Zitronengras beziehungsweise mit Chili und Hochland Whisky, beide würzig und herb, die es mir besonders angetan haben. Zudem fand ich eine typisch schweizerische Maestrani-Milchschokolade, die von einer festlichen, nostalgischen Weihnachtspackung aus dem Jahr 1905 mit bärtigen Zwergen, die einen beladenen Schlitten durch den Schnee ziehen, umwickelt ist.
 
Wer sucht und hinschaut, der findet das Spezielle. Das Leben ist voller Schokoladenseiten, und gelegentliche Bitterkomponenten (wie bei einer exzellenten dunklen Schoggi) machen das Fest für jenen kompletter, der auch diese zu schätzen weiss.
 
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